Kolumne „Eigels Erfa-Erkenntnisse“ Azubis halten: Wie binde ich Auszubildende an mein Unternehmen, Frau Eigel?

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Ausbildung, Eigels Erfa-Erkenntnisse, Fachkräftemangel und Mitarbeitermotivation

Andrea Eigel leitet zahlreiche Erfa-Gruppen – und ist somit ganz nah dran am Handwerk. In ihrer neuen Kolumne beantwortet die erfahrene Beraterin Fragestellungen aus der Praxis. Folge 4: Azubis halten.

Um Azubis nach der Ausbildung im Betrieb zu halten, müssen Unternehmer vor allem die Freude am Beruf kommunizieren.
Um Azubis nach der Ausbildung zu halten, müssen Unternehmer vor allem die Freude am Beruf kommunizieren. - © chokniti - stock.adobe.com

Kennen Sie das Phänomen „Selbstoptimierung“? Sachlich betrachtet beschreibt es den Prozess, dauerhaft an der Verbesserung seiner persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten zu arbeiten. Dagegen ist natürlich nichts einzuwenden. Allerdings ist heutzutage zu beobachten, dass sich aus der Möglichkeit, sich zu verbessern, oftmals ein Zwang entwickelt hat, ständig über sich hinauszuwachsen zu müssen. Mit kontraproduktivem Ergebnis: Während die selbst gewählte Weiterentwicklung Glücksgefühle erzeugt, führt die von gesellschaftlichen Erwartungen gepushte Variante der Selbstoptimierung bei vielen Menschen zu einem Gefühl der Unzulänglichkeit, einer ständigen Getriebenheit, Verunsicherung und am Ende zu hochgradiger Unzufriedenheit.

Vielleicht kommen Ihnen dabei beispielhaft Menschen im Diät- und Fitnesswahn in den Sinn oder Leute, die keinen Psychokurs zur seelischen Selbstreflexion auslassen und trotzdem einen eher unglücklichen Eindruck machen. Nun, das Phänomen betrifft Sie deutlich direkter, wenn Sie zu den ausbildenden Betrieben zählen. Denn der Hang zur Selbstoptimierung kann mit dazu führen, dass Fachkräfte nach der Ausbildung den Betrieb verlassen. Ein Trend, dem gegengesteuert werden muss, damit Sie fertige Azubis langfristig in Ihren Reihen halten!

Ausbildung abgeschlossen, was jetzt?

Wie ich darauf komme? Innerhalb von zehn Tagen bin ich jüngst in zwei unterschiedlichen Erfa-Gruppen auf eine Problematik gestoßen, die meiner Wahrnehmung nach in Teilen mit einem solchen Gefühl des Selbstoptimierungszwangs in Zusammenhang steht. Konkret beklagten die Betriebsinhaber unisono, dass immer mehr Auszubildende sie direkt oder wenige Monate nach der Gesellenprüfung auf Nimmerwiedersehen verlassen. Und dies wohlgemerkt trotz all der hoch professionellen Bemühungen um die jungen Leute – vom Azubi-Paten über intensive Azubi-Kommunikation bis hin zu gelebter Wertschätzung und vielerlei Vergünstigungen.

Ein Wohlfühlen während der Lehre ist kein Garant für das Bleiben der Auszubildenden. Wohin sich die Junggesellinnen und Junggesellen verabschieden? Ein Teil, so berichteten es die Betriebsinhaber, entscheidet sich sofort für die Meisterschule oder ein Studium. Und eine andere große und stetig wachsende Gruppe gibt an, „noch etwas anderes“ sehen oder machen zu wollen – darunter: eine Zweitausbildung, erst mal eine lange Reise nach Australien oder das Vorhaben, sich auch als Vater längere Zeit ganz der Kindererziehung zu widmen.

Viele scheinen auf der Suche nach immer neuen Chancen zu sein, angetrieben von der Angst, etwas zu verpassen. Kann es sein, dass der stringente Lebenslauf innerhalb eines einmal gewählten Fachgebiets deutlich an Attraktivität eingebüßt hat? Ist es möglich, dass Stetigkeit im Beruf von vielen frisch Ausgebildeten mit Langeweile und einem nicht Instagram-fähigen Leben gleichgesetzt wird? Fühlen sich diejenigen, die kündigen, vielleicht auch getrieben, weil ihnen immer wieder vermittelt wird, dass Anerkennung nur über schnelle Karriereschritte und Titel zu bekommen ist – und wären Azubis leichter zu halten, wenn ihnen eine Glücksperspektive im Betrieb aufgezeigt werden würde?

Freude an der Arbeit vermitteln

Die Kündigungsgründe sind vielfältig – die besagten Betriebsinhaber konnten alle drei Thesen bestätigen. Wo gibt es Ansatzpunkte, insbesondere der Kündigung aus Selbstoptimierungsgründen, wirkungsvoll zu begegnen? Gemeinsam haben wir drei konkrete Botschaften erarbeitet, die aktiv kommuniziert und umgesetzt werden müssen, um das Weiterarbeiten im Betrieb deutlich aufzuwerten. Versuchen Sie ihren Azubis folgendes zu vermitteln:

  • Laufende Veränderung ist für manche sinnhaft, doch sehr viele andere Menschen erfahren Erfüllung, Zufriedenheit und persönliches Wachstum beim kontinuierlichen Arbeiten in ihrem erlernten Beruf.
  • Denselben Beruf bei derselben Firma auszuüben, bedeutet nicht Stillstand, sondern höchst zufriedenstellenden Erfahrungszugewinn auf vielen unterschiedlichen fachlichen und menschlichen Ebenen.
  • Weiterentwicklung ist auch innerhalb des Betriebs möglich – in kleinen Schritten, von der Übernahme von mehr Projektverantwortung bis hin, nach ein paar Jahren, zur Meister- oder Technikerqualifikation mit echtem beruflichem Knowhow im Rücken.

Wie sich diese Botschaften ganz praktisch vermitteln lassen?

Drei Maßnahmen, um Azubis zu halten: So kommunizieren Sie überzeugend!

  1. Den „tragenden Säulen“ im Betrieb Wertschätzung transportieren: Oftmals liegt der Fokus im Unternehmen auf den Mitarbeitenden, die Spezielles leisten oder von Karrieresprung zu Karrieresprung eilen. Doch getragen wird der Betrieb von denjenigen, die kontinuierlich und oft über viele Jahre auf ein und derselben Position ihrer Arbeit nachgehen. Lassen sie diesen Menschen mehr Wertschätzung zukommen. So merken schon die Azubis, dass auch ein „ganz normales Berufsleben“ etwas Erstrebenswertes sein kann.
  2. Ganz gewöhnliche Lebensläufe ins Schaufenster stellen: Die Geschichten dieser Mitarbeitenden – übrigens: jeden Alters –, die den Betrieb am Laufen halten, sollten auch nach außen kommuniziert werden. Warum erfahren sie ihr berufliches Leben als sinnhaft? Wie profitieren sie von der Verankerung im Betrieb? Wie bereichert ihre Treue zum Betrieb ihr privates Leben? Solche Stories gehören erzählt – auf der Website und in den Sozialen Medien. Und eben nicht nur die Geschichten der „Überflieger“, die letztlich immer weiter und damit immer schneller weg von ihrem Betrieb streben.
  3. Im Azubi- und Mitarbeitergespräch positive Bleibeperspektiven aufzeigen: Schon frühzeitig sollte in Feedbacks dargestellt werden, welchen Wert das Sammeln beruflicher Erfahrung in ein und denselben Betrieb bietet. Zusätzlich sollte die Darstellung innerbetrieblicher Entwicklungsmöglichkeiten nicht fehlen. Hier empfiehlt es sich, konkrete „kleine Karriereschritte“ zu definieren, die zum Mitarbeitenden passen. Bereits mehr Projektverantwortlichkeit oder die Vertiefung bestimmter fachlicher Kompetenzen können dazu zählen. So fördern Sie von Anfang an, dass das Bleiben im Betrieb eine weitere attraktive Komponente erhält.

Fazit: Bleiben kann glücklich(er) machen – so lassen sich Azubis halten

Die bestmögliche Ausbildung mit allen erdenklichen Benefits allein scheint heute keine Garantie mehr zu bieten, dass junge Gesellen und Gesellinnen sich langfristig an den Betrieb binden und der Betrieb seine Azubis halten kann. Einige von ihnen haben klare Karriereziele und verlassen den Betrieb direkt gen Meisterschule. Viele andere jedoch scheinen sich, geleitet von falsch verstandenen Selbstoptimierungsanforderungen, unter Druck zu setzen. Sie wollen sich nicht festlegen, entscheiden sich für völlig andere Berufswege oder Lebenserfahrungen und jagen oft vergeblich jahrelang ihrer beruflichen Erfüllung hinterher. Ihnen kann der Betrieb vermitteln, dass das gesuchte Glück näher liegt, als sie vermuten. Dazu müssen die Vorteile des Arbeitens im Beruf – wie erlebte Sinnhaftigkeit und echte Zufriedenheit der „ganz normalen Fachkräfte“ – viel deutlicher thematisiert und in den Mittelpunkt gestellt werden. Gerade die Suchenden unter den Gesellinnen und Gesellen erhalten so Vorbilder, die sie emotional überzeugen können - davon, in ihrem Ausbildungsbetrieb zu bleiben und ihre berufliche Erfahrung auszubauen.

Über Kolumnistin Andrea Eigel:

Andrea Eigel unterstützt Unternehmerinnen, Unternehmer und Führungskräfte im Handwerk dabei, Kunden und Mitarbeitende zu gewinnen und nachhaltig zu binden – und dabei auch selbst bei Lust und Laune zu bleiben.

Sie hält Vorträge, macht Workshops und Coachings, moderiert Veranstaltungen und leitet seit vielen Jahren Erfa-Gruppen. Nebenberuflich ist sie Dozentin an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg.

Andrea Eigel schreibt die Kolumne "Eigels Erfa-Erkenntnisse"
Andrea Eigel schreibt die Kolumne "Eigels Erfa-Erkenntnisse" - © Kaleidoskop Marketing-Service GmbH